Kurz­geschich­ten

Zu­flucht

Nachts war die beste Tageszeit in der Eisenbahnstraße. Tagsüber sah das Viertel zu trostlos aus. Alte, langsam verfallende Fassaden säumten die industriell angelegten Straßenzüge. Mitten durch die Hauptstraße verliefen Bahngleise. Es musste Jahrzehnte her sein, seit diese für den Transport von Gütern benutzt worden waren. Das Metall der Zäune und Gatter war längst dem Rost zum Opfer gefallen. Die Scheiben der Fabrikfenster gesplittert und zersprungen. Neben alten, mit Gangsymbolen übersprühten Backsteinwänden suchten Streuner und Obdachlose nach Überresten von Nahrungsmitteln. Das Grau der Umgebung übertrug sich unmittelbar auf die Seelen der Bewohner.

Doch davon gab es ohnehin nicht mehr viele. Die wenigen Gestalten, die hier noch ihr Unwesen trieben, waren wohl nicht freiwillig hier gelandet. Und aus eigener Kraft würden sie es wohl auch nicht mehr hier raus schaffen. So auch Josh und Sue.

verlassener Einkaufswagen
Photo by Kai Oberhäuser on Unsplash

„Hey. Wie viel hat der Franzose grad eben verlangt?“, fragte Sue. Die vierundzwanzig Jahre sah man ihr fast nicht an. Doch wer genauer hinsah, konnte eine gewisse Müdigkeit in ihrem Blick ausmachen. Sie war hübsch – ohne Frage. Doch zeichneten sich um Ihre Augenwinkel leichte Falten ab. Schon lange war sie daran gewöhnt, ihre ungesunde Gesichtsfarbe mit viel Makeup zu vertuschen. Was sie nicht verheimlichen konnte war ihr unterdurchschnittliches Gewicht. Zu ihren rosa gestreiften Leggins trug sie eine mit Pyramiden-Nieten besetzte Lederjacke. Die blond gelockten Haare waren mit viel Haarspray fixiert. Federn ergänzten die Frisur des Paradiesvogels.

„25 Öcken.“, schmunzelte der hagere Mann zurück. Er war in einen langen, grauen Trenchcoat gekleidet, der sein schlankes Erscheinungsbild noch verstärkte. Die fettigen, halblangen schwarzen Haare trug er lässig nach hinten gekämmt. Seine ausgetretenen Stiefel passten zu dem verbrauchten Gesamteindruck, den der Mittzwanziger bei vielen Leuten hinterließ. Der Mann rieb sich das markante, stoppelige Kinn und machte einen besorgten Eindruck. „Für mehr als zwei Gramm hat es trotzdem nicht gereicht.“, resignierte er.

Sue blickte auf die vier Beutel vor ihrer Nase: „Wird schon genügen. Lass uns von hier abhauen.“. Und das war tatsächlich das Geschickteste, das man nachts in dieser Gegend tun konnte. Zwar waren Josh und Sue seit langem Stammkundschaft bei diversen russischen, kolumbianischen und französischen Dealern, doch bei eben so vielen hatten sie auch noch Schulden. Entweder das, oder sie waren als permanent mittellose Punks ohnehin als Kunden nicht gerne gesehen.

So machten Sie sich auf, um in einer der leeren Fabrikhallen einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Davon hatten Sie bereits viele zur Auswahl. Ihre Lieblingshöhle war jedoch ein kleines, leerstehendes Appartement in der Nähe des alten Ostbahnhofs. Auch heute würden sie dort ein wenig Ruhe suchen.

Josh riss einige, den Eingang versperrende Bretter herunter und schlüpfte in das düstere Gebäude. Zärtlich nahm er die junge Frau an der Hand und führte sie in ihr Versteck. In dem düsteren Treppenhaus lag der modrige Gestank von altem Holz und Staub. Rasch gingen Sie in den ersten Stock. Am Ende der Treppe angekommen, konnte man in einen dunklen Korridor blicken. Dieser wurde nur leicht durch das weiße Neonlicht der Straßenlaternen draußen erhellt. Das Wenige, das die Holzverbarrikadierung der Fenster durchdrang, warf auf dem Boden des Flurs bedrohliche Schatten.

Doch für die beiden jungen Menschen war dies der Pfad zum Glück. Am Ende des Ganges befand sich eine rote Tür. Auf das wurmstichige Holz war mit schwarzem Permanentmarker der Warnhinweis 'F.O.A.D.' geschrieben. Die beiden sahen sich kurz in die Augen. Sue lächelte. Flink griff Josh in eine der Innentaschen seines Trenchcoats und holte einen kleinen verrosteten Schlüssel heraus.

Sue betrat zuerst das Zimmer. Mit einem erschöpften Stöhnen ließ sie sich auf einen dunkelblauen Sitzsack fallen. Josh schloss hinter sich die Tür. Sie waren zuhause.

„Endlich! Ich dachte, wir würden es vor Tagesanbruch nicht mehr schaffen.“, witzelte das abgehalfterte Mädchen. „Naja, jetzt sind wir ja da. Ist bald soweit.“, antwortete der fahle Mann, als er begann, in der Mitte des Raumes einige Kerzen zu entzünden. Der zwölf Quadratmeter große Raum hatte zwei kleine Fenster. Auch diese waren teilweise mit Brettern verkleidet. Durch kleine Spalten konnte man das Treiben auf der tristen Eisenbahnstraße beobachten. Falls man das wollte. Und dafür konnte es viele Gründe geben.

Sue atmete tief durch. „Wir hätten den Subaru nie verkaufen sollen. Da drin konnte ich immer schlafen wie ein Baby ...“, stöhnte sie, als sie sich mit ihrer Hand über die schweißnasse Stirn fuhr. Josh hatte diese Geste immer gemocht. Sie konnte es fast nicht mehr aushalten. Er wusste genau, wie sie sich in einer halben Stunde verhalten würde. Seine Wangen verzogen sich zu einem faltigen, blassen Lächeln. „Ich hab die gelbe Dreckskarre auch gemocht Susy Q. Aber hier ist es doch auch ganz kuschelig.“, Josh nahm seine Freundin an der Hand. „Außerdem ist Veränderung gut! Wir müssen flexibel bleiben.“ Er setzte die junge Dame auf die vergilbte Matratze in der hinteren Ecke des Raums. Nur die gelbe-orangen Flammen der Kerzen erleuchteten das modrige Zimmer.

„Ich versteh' schon“, zwinkerte sie ihm zu „Veränderung.“ Dann wurde sie still und verlor sich in Gedanken. Der Halbitaliener begann seine Ausrüstung auszupacken, während sich Sue auf der Schlafgelegenheit neben ihm zusammenkauerte. Das dunkle kleine Zimmer wäre für die meisten sehr beklemmend gewesen: Der Putz bröckelte von Decke und Wänden. Überall waren Grafittis und Kritzeleien. Und auch die verdreckten Bodendielen hatten ihre besten Tage längst hinter sich. Und doch war es ein Stück von Heimat für die beiden. Auch wenn es nur eine kleine Konstante in ihrem Leben war, so bedeutete dieses versiffte Zimmer doch Halt. Sicherheit.

verlassener Gang
Photo by Robin Benzrihem on Unsplash

„Weißt du, was wir machen, wenn ich das Geld von Luca bekomme? Wir fahren nach Italien! An die Riviera. Einfach weg von dem Scheiß hier! Ist da unten auch viel billiger.“, über die Schulter warf er Sue einen Blick zu „Und die beste Pasta der Welt.“ Die beiden fingen an zu grinsen. Dann begann das Mädchen zu husten. Sie sah alles Andere als gut aus. „Josh ...“, begann sie. „Ich mach ja schon Kleines.“, antwortete er schnell und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Normalerweise besorgten sie das Persische Heroin, welches in letzter Zeit in Umlauf war. Doch heute hatten sie keine ihrer alten Bekanntschaften angetroffen. Das Viertel wurde langsam zu heiß. Aber das machte nichts. Dieses persische Zeug war ohnehin ölbasiert. Das Aufkochen in Zitronensaft hatte Josh schon immer als zu zeitaufwendig und nervtötend empfunden. Er wollte einfach nur high werden. Und das so schnell und so stark wie möglich. Am besten mit ihr.

Nein heute hatten Sie Glück: China White. Er konnte es kaum erwarten, das Rauschgift in seinen Blutkreislauf einzuführen und endlich aus dem seelischen Tief gerissen zu werden, in dem er sich seit seinem letzten Trip befand. Manchmal hatten Sue und er danach stundenlang Sex. Immerhin verhinderte sein körperlicher Zustand dann, dass er kommen konnte. So hätte er für immer weiter machen können. Nah bei der Frau da hinten auf dem Bett zu sein und die seelische Leere, die ihn umgab, hinter sich zu lassen.

Voller Vorfreude entleerte er zwei der kleinen Plastikbeutel auf einen verrusten Metalllöffel. „Wann hat er gesagt, kriegt er die Kohle?“, unterbrach Sue seine Konzentration. „Ähm. Ich denke nächsten Monat. Ja er hat gesagt in zwei Wochen. Weißt du...“, blickte er auf. „... Er hat Probleme mit Vladimirs Leuten.“ Er hielt den Löffel über eine der Kerzen in der Mitte des Raumes. Durch das sanfte Licht wurden Joshs kantige Gesichtszüge hervorgehoben. Die Ähnlichkeit mit einem Skelett war beunruhigend. „Nicht einfach zur Zeit auf der Straße. Aber das weißt du ja selbst.“

„Ja ...“, keuchte die zierliche Punk-Rockerin, als sie sich aufsetzte und neben Josh rückte. Sie griff in Ihre Handtasche und holte einen Gummischlauch heraus. Früher war es ihr wichtig gewesen, dass die Spritzen und Verbände steril waren. Aber das musste Jahre her gewesen sein. Jetzt wollte sie nur noch so schnell wie möglich einen Trip schieben. Falls sie an neuen Stoff gekommen waren natürlich. Dazu reichte auch eine Pfütze vor dem Haus, wenn gerade kein sauberes Wasser greifbar war. Ihr war ja schon lange alles egal gewesen – bis vor kurzem.

„Sag mal Josh.“, begann sie. Sie strich sich das Vogelnest von Frisur glatt. „Wie lange wollen wir das noch machen?“

Der abgehalfterte Kerl wandte seinen manischen Blick von der kleinen brodelnden Pfütze in dem Eisenbesteck vor sich ab und drehte sich dem schönen Gesicht seiner Freundin zu: „Was meinst du? Wie lang?“, fragte er.

„Naja ... Ich meine jetzt, wo wir weder die Wohnung noch das Auto haben. Sogar Mum ruft mich nicht mehr zurück. Du weißt schon ...“, versuchte sie zu argumentieren. Eine kurze Pause. Dann band Sie sich den Schlauch um ihren linken Oberarm. „Ach egal.“

Joshs Mine wurde düster. Er wandte sich ab und begutachte das nun völlig verflüssigte Amphetamin-Gemisch. „Er bringt's schon. Dann hauen wir ab!“, zischte er, als er in den Taschen seines Mantels nach etwas zu suchen begann. „Immerhin ist er mein Cousin. Familie ist Familie. Da lässt man sich nicht hängen!“. Ihm waren einige fettige Strähnen ins Gesicht gefallen und warfen dunkle Schatten über seine krumme Nase.

Sue lehnte sich an die verfallende Wand hinter sich. Ein bisschen des feuchten Putzes rieselte auf ihre hängenden Schultern. Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken. Ihre wilde Lockenmähne fiel ihr dabei tief ins Gesicht. Leise keuchte sie: „Familie.“ Einige Minuten war es totenstill in den feuchten vier Wänden.

Spritzen, Löffel, etc.
Photo by @Matthew_T_Rader on Unsplash

Der erfahrene Junkie ließ nun äußerste Vorsicht walten. Schon als Kind hatte er ersten Kontakt mit Drogen gemacht. Damals hatte er einen Joint von seinem großen Bruder bekommen. Dass dieser längst tot war, daran wollte er nicht denken. Auch der Gedanke, dass er dieses unschuldige Mädchen neben sich irgendwie hier mit rein gezogen haben könnte, war ihm unangenehm. Solche Dinge wollte er so schnell es ging im Drogenrausch vergessen.

Behutsam zog er die klare Flüssigkeit durch ein Stück Stoff, dass er sich aus dem Mantel geschnitten hatte, in eine Kanüle. Durchsichtiges Gold. Der Schlüssel zu all dem Dopamin in seinem Gehirn. Sein Körper spannte sich an. Seine Gedanken schweiften ab. Dann kam er zu sich: „Du zuerst?“, fragte er, als er ihr die Spritze vor die Nase hielt. „Wie immer?“

„Wie immer!“, antwortete das abgemagerte Mädchen. Irgendwie war sie anders als sonst. Sogar er hatte das bemerkt. Trotzdem hielt sie ihm ihren Arm hin. „Na gut. Dann mal los.“, begann er. Dann beugte er sich dicht zu ihr hinunter und flüsterte: „Break on through to the other side.“. Mit diesem Morrison-Zitat drückte er den Stempel der Spritze bis zum Anschlag hinunter; seinen Mund fest auf ihre roten Lippen gepresst.

Das Injektions-Instrument steckte noch in ihrem Arm, als ein heftiges Treten gegen die Tür zu hören war.

Shatten durch Fensterblende
Photo by Junion Huo on Unsplash

„Scheiße Mann!“, keuchte Josh, als er hektisch aufstand und neben die Tür schritt. „Haut ab ihr Arschlöcher!“. Doch da war es schon zu spät. Die Tür war längst aufgebrochen und lag in Splittern mitten im Raum. Ein paar finster aussehende Gestalten in Lederjacken griffen nach dem hageren Typen neben dem Eingang und drückten ihn an die Wand.

Ein dünner roter Blutstrom rann seinen Hals hinab, als ihm eine Klinge an die Kehle gehalten wurde.

Sie wusste nicht genau was passierte. Sie konnte nur noch wenige Dinge feststellen, bevor ihr Körper sämtliche Wahrnehmung verlor. Zum Einen das blau flackernde Licht, welches so schöne Muster auf den Fußboden ihres Zimmers zauberte. Dann waren da noch die hektischen Schritte im Treppenhaus. Und zuletzt der angsterfüllte und doch liebevolle Blick, den ihr ihr Partner zuwarf.

Ihr letzter Gedanke war die Hoffnung, dass dem Kind in Ihrem Bauch nichts passieren würde. Dann war sie weg.