Kurz­geschich­ten

Grind­house

Montag, 7:15 Uhr. Ihr Handyweckruf erklang nun bereits zum dritten mal. Schon wieder war Lucy der verführerischen Gemütlichkeit ihrer Snooze-Taste zum Opfer gefallen. Die schlechte Stimmung, die beim Ertönen des voreingestellten Sony X-Peria Klingeltons in ihr aufwallte, war schwer in Worte zu fassen. Am liebsten wollte sie sich jetzt noch tiefer in ihre Festung aus Kissen und Decken vergraben – gerade so aus Trotz. Schließlich überwand sie sich aber doch.

Mit ausschweifenden Armbewegungen bahnte sich ein von purpur gefärbten Haaren gekrönter Kopf seinen Weg aus der Untiefe aus Bettwäsche. Dunkle Augenringe zeichneten das Gesicht der jungen Frau. Der schwarze Lidschatten von gestern Nacht war völlig verschmiert. Sie hatte mal wieder keine Zeit zum Abschminken gehabt. Keine Zeit. Atemnot. Wie immer. Ihre grünen Augen begannen sich im Zimmer umzusehen.

Obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, war es draußen noch dunkel. Durch das einzige Fenster im Raum schien dennoch etwas Licht. So konnte man einige Details des Studentenzimmers erkennen. An den Wänden hingen Filmposter aller möglicher Tarantino- und Rodriguez-Filme. Deathproof und Planet Terror stand groß auf den Plakaten geschrieben. Der Boden sah fürchterlich unordentlich aus. Überall im Raum lagen persönliche Gegenstände und schmutzige Kleidung verteilt. Getragene Oberteile und Socken, BHs und Hosen. Halbvolle Saftkartons sowie diverse umgekippte Bier- und Schnapsflaschen. Schmutzige Teller mit Essensresten und lose Blockblätter mit kompliziert aussehenden Gleichungen darauf. Volle Aschenbecher teilten sich eine Ecke mit leeren Pizzakartons.

Lucy knipste ihre Nachttischlampe an. Das grelle gelbe Licht warf harte Schatten auf die Utensilien auf dem Boden. Der Teppich sah nun aus wie ein kleines Schlachtfeld. Die vielen Gegenstände waren die Soldaten. Und alle marschierten sie auf ihr Bett zu.

Unter Anstrengung stand das Mädchen auf und begann, sich zu seinem Schreibtisch zu schleppen. Dass sie dabei auf eines ihrer Lehrbücher trat, schien ihr nichts auszumachen. Sie warf einen Blick auf den Kalender und fuhr sich dabei durch die wild abstehenden roten Haare. „Was zum Teufel?“, dachte sie. Lucy rieb sich die Augen und begann sich mit der unausweichlichen Tatsache auseinander zu setzen: Ihr stand eine weitere Woche ihres Lebens bevor.

leere Schnapsflaschen
Photo by Orkhan Farmanli on Unsplash

Die Zeit im Bad war knapp bemessen. Schnell sprang sie unter die Dusche. Sie spürte das kalte Wasser an ihrem Körper herunter rinnen. Endlich wurde ihr Kopf klarer. Wie wohl neunzig Prozent der berufstätigen Bevölkerung und ein bekannter oranger Zeichentrickkater, hasste sie Montage. Aber vermutlich hasste Sie Montage mit Abstand mehr, als das normalerweise der Fall war.

Lucy hatte das Wochenende über gearbeitet. Samstags- plus Sonntags-Schicht in einem kleinen veganen Restaurant, direkt bei ihr um die Ecke. Der Job war okay für sie. Nicht das Beste, was die Gastronomie in der kleinen Studentenstadt zu bieten hatte, doch dennoch annehmbar. Auch wenn die Wochenenden dort die reinste Katastrophe waren. Aber zumindest half ihr das Servieren der fleischfreien Speisen dabei, ihre Miete für das kleine WG-Zimmer aufzubringen. „Ein Lächeln macht oft den Unterschied von Null zu 20 Prozent Trinkgeld aus.“, hörte sie die Stimme des homosexuellen Lokalbesitzers in ihrem Kopf. Wie sie diese mittlerweile verabscheute.

Sie spuckte die Zahnpasta aus und sah in den Spiegel. Sie fasste es nicht in einen konkreten Gedanken, aber wusste es trotzdem. Wie konnte man als so junger Mensch nur so verbraucht aussehen? Sie kämmte sich die halblangen Haare nach hinten. Dann fiel der Blick auf ihren nackten Körper. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Und schon gar nicht an einem so beschissenen Montag-Morgen. „Fick dich Spiegel!“, kotzte sie sich aus. Mit ernstem Blick verließ sie das Badezimmer.

In ihrem Zimmer griff sie nach einem alten Oberteil und einer Hose. Fünf Minuten später stand sie mit Dutzenden anderen Studenten in dem Bus, der sie zur Universität bringen würde. Wie unglaublich müde sie noch war, konnte man ihr unschwer ansehen. Noch im Stehen fielen ihr zum ersten mal die Augen wieder zu. Als der Bus eine Kurve nahm, rumpelte sie unbeholfen gegen einen anderen Fahrgast. „Verzeihung.“, murmelte das gerade erwachte Mädchen verdutzt.

Auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Hochschule zündete sich Lucy die erste Zigarette des Tages an. Eine von Vielen. Das war bereits absehbar. Gefrühstückt hatte sie nicht. Wie immer. Keine Zeit. Außerdem war ihr Kühlschrank sowieso fast leer. Warum sollte sie eigentlich überhaupt etwas essen? Ihrer Meinung nach war es überflüssig. Und das obwohl sie sich dreimal die Woche zum Uni-Sport aufraffte. „Verflixt!“, zischte Lucy. Angestrengt versuchte sie, den Hundekot auf einer Grasfläche neben dem Weg abzustreifen.

Aschenbecher mit Zigarettenstummeln
Photo by Patrick Brinksma on Unsplash

„Das macht Einen Euro Dreißig.“, riss sie die Stimme der Cafeteria-Frau aus ihren Gedanken. Sie schnappte sich ihren Kaffee und machte sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Mit schnellem Schritt eilte sie die Betontreppen des alten Universitätsgebäudes hinauf. Ihr Puls stieg an. Schließlich war sie im zweiten Stock angekommen. Nun stürzte sie das Heißgetränk förmlich herunter. Dann atmete sie lange und besorgt aus. Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür.

„Ach da sind sie ja Fräulein Cræmer. In einer Viertel Stunde ist die wöchentliche Arbeitsgruppen-Besprechung. Vielleicht schaffen sie es heute ja sogar pünktlich.“ Die Stimme des Professors wurde immer leiser, als er an ihr vorbei stürmte und sie einsam im Türrahmen stehen ließ. Lucy fühlte sich völlig überrumpelt. Ihre herbstfarbenen Augen wurden trüb und begannen in die Ferne zu starren.

„Hey Lucy. Wir müssen langsam mit dem Assay anfangen. Kümmer dich schon mal um die Säule von der HPLC.“, drehte sich einer der Laborangestellten vom Abzug her zu ihr um. Sie streifte sich ihren mit unzähligen, verschieden farbigen Flecken versehenen Laborkittel über. Dann vibrierte ihr Handy. Angespannt hielt sie ein Stöhnen zurück. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie verstohlen die neue WhatsApp-Nachricht las: „Lukas krank. Heute 20:00 Bar-Schicht!“

Mikroskope
Photo by Ousa Chea on Unsplash

Irgendwie fühlte es sich an, als ob ihr ihr Leben entgleiten würde. Sie war weit weg von zu Hause. Klar. Das Studium war ein Glücksgriff. Und sie hatte viel Potential. Renommee. Karriere. Cum Laude. Doch was war das alles wert, wenn sie dabei jeden Tag Stück für Stück kaputt ging? Zum Glück hatte sie nicht viel Zeit, sich in solchen Gedanken zu verlieren. War es Glück?

Heute durfte Sie die Öffnungszeiten des BAföG-Amtes nicht verpassen. Dass sie ihre Mittagspause dafür opfern musste, war kein Problem. So musste sie sich immerhin keine Ausrede einfallen lassen, warum sie beim Essen mit den anderen aus der AG einen leeren Teller vor sich hatte.

Endlich stand sie vor dem tristen Betongebäude. Doch die Dienststelle war bereits geschlossen. Und der Antrag war fällig. Sie war auf die 324,25 EUR pro Monat angewiesen. „Fuck.“, dachte Lucy und begann sich die Nasenwurzel zu reiben. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte ruhig zu bleiben. „Dann Morgen“, stöhnte sie, als sie wieder umkehrte. Einige purpurne Strähnen hingen ihr tief ins Gesicht, als sie die verschlossene Tür hinter sich ließ.

leerer Hoersaal
Photo by Ross Sneddon on Unsplash

Draußen vor dem Laborfenster war die Sonne schon lange im Westen verschwunden. Es war nun eigentlich bereits viel zu spät für ihren Geschmack. Aber irgendwie hatte es ihr Arbeitsumfeld geschafft, dass sie dies gar nicht mehr als außergewöhnlich wahrnahm. „Was ist schon psychosozialer Druck?“, dachte Sie sich, als sie ihren Kittel wieder an den abgenutzten Haken an der grauen Wand hing.

„Und denk an die Gleichungen. Professor Hesse will die bis Mittwoch als TIF in seinem Postfach haben. Sonst fällt das Poster für den Kongress am Samstag flach!“, wurde ihr noch hinterher gerufen. Als ob sie das vergessen hätte oder könnte.

Mittlerweile war es stockfinster. Der letzte Bus war bereits weg. „Dann eben zu Fuß.“, resignierte die Studentin. Sie zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Das Mädchen begann zu frösteln. Unbemerkt hatte sich eine Songzeile in ihr Unterbewusstsein geschlichen. Fest kniff sie sich in den linken Oberarm. The Pain tells me I'm still alive. Hatebreed hatte sie immer schon gemocht. Ein müdes Lächeln umspielte ihre ausgetrockneten Lippen.

Den Rucksack fest auf den Rücken geschnallt, betrat sie endlich den Supermarkt. Atemlos stand sie vor dem Regal mit den glutenfreien Speisen. Genau konnte sie es sich nicht erklären, wann sie diese Lebensmittelunverträglichkeit entwickelt hatte. Ob das mit dem Stress zusammenhing? Mit fröhlicher Einspielmusik ertönte eine Durchsage: „Liebe Kunden. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass unser Markt in fünf Minuten ...“ Lucy's Gedanken schweiften ab.

Eine Hand berührte sie an der Schulter. „Hey. Zwei Mojitó. Lucy! Komm mal klar. Mir brennt hier der Kittel!“, ertönte die Stimme ihres Kollegen. Das Mädchen zwinkerte ein paar mal verwirrt, doch dann fing sie sich. „Ach fick dich Hannes.“, gab Lucy kontra. Sie drehte sich um und griff nach einer Flasche Barcadi. Das Handy in Ihrer Tasche vibrierte: Vier verpasste Anrufe. „Lass mich bloß in Ruhe ...“, dachte sie sich. Dann wendete sie sich wieder der Bar zu.

unordentliches Zimmer
Photo by JF Martin on Unsplash

Dienstag, 2:15 Uhr. Leise schlich sie sich an den Katzen ihrer Mitbewohnerin vorbei und schloss hinter sich die Tür. Mit dem Rücken an den Eingang gelehnt, atmete sie ruhig aus. Ihr Blick war dabei abwesend auf die leere Schwärze ihrer Zimmerdecke gerichtet. Erschöpft schritt sie zu ihrem Bett. Auf dem Weg dahin schlüpfte sie nach und nach aus ihren Klamotten und lies ein Kleidungsstück nach dem anderen auf den Boden fallen.

Schlaff sank sie auf die Matratze. Lucy klappte ihren Laptop auf. Mit seinem kalten blauen Strahlen tauchte der Monitor das kleine Zimmer in ein mystisches Licht. Wie unheimlich beruhigend das auf sie wirkte. Auf ihrer mit Gänsehaut überzogenen Haut, ließ das kühle Strahlen ein kunstvolles Relief entstehen. Ein behüteter Moment. Es war schön anzusehen, wie die Formen ihres halbnackten Körpers sanft vom Licht umspielt wurden.

Eigentlich hätte sie sich noch um das Experiment für Morgen kümmern müssen. Doch dazu fehlte ihr jetzt einfach die Kraft. Ein paar Klicks später flackerte ein Splatter-Film auf dem Monitor. Endlich lehnte sich Lucy entspannt zurück. Nach einigen Minuten stand sie auf und ging zum Fenster. Sie kippte es. Dann schritt sie zu der alten Kaffeemaschine auf ihrem Schreibtisch. Sie öffnete das Filter-Fach und holte einen kleinen, durchsichtigen Beutel heraus.

Sie setzte sich wieder aufs Bett und begann, den Inhalt des Beutels systematisch vor sich auszubreiten. Im Hintergrund flackerten Zombies über den Bildschirm. Im Dunkeln begann sie mit ihrer Arbeit. Sie liebte es, wenn es endlich Nacht war. Ihr kam es vor, als ob die Finsternis die Anstrengungen des Alltages von ihr fern hielt.

Zärtlich leckte sie das Longpape ab und rollte ihr Werk zusammen. Es hatte viel Übung gebraucht, um die notwendige Fingerfertigkeit dafür zu erlangen. Aber die besaß sie schon seit einigen Semestern.

Hektisch tastete sie den Boden nach einem Feuerzeug ab. Schließlich ertönte ein Klacken und eine rötliche Flamme erhellte ihr müdes Gesicht. Sie setzte sich das Papierende an ihre Lippen und nahm einen tiefen Zug. Sie wollte so viel des Rauches wie möglich in ihre Lungen pressen. Ihn so weit wie möglich inhalieren, bis er auch die letzte Ecke ihres Atemapparates ausfüllte. Und ihn so lange es ging dort behalten. Dann atmete sie den Qualm gelassen aus.

Als sie diesen Vorgang für einige Minuten in der vertrauten Stille der Nacht wiederholte, musste sie an ihrer Mutter denken. Dann spürte sie wie das THC in ihrer Blutbahn endlich zu wirken begann.

Rauch
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Lucy brauchte solche Momente. Diese waren die einzigen Augenblicke, die sie tatsächlich in der Gegenwart verbrachte. Dann war sie völlig bei sich. Kein Denken an die Vergangenheit. Was in ihrem Leben vermutlich alles schief gelaufen war. Oder was erst an diesem Tag schief lief. Kein Denken an die Zukunft. Die Angst vor dem Ungewissen. Die Angst vor dem Versagen und nicht mit den Zielen mithalten zu können, die sie sich selbst gesteckt hatte. Das waren die Momente, in die sie flüchten konnte. Flüchten vor der Welt außerhalb ihres Zimmers. Flüchten vor ihren eigenen hohen Ansprüchen. War es der Druck von Außen oder der von Innen, der sie mehr zerstörte? Ihr Geist begann zu wandern.

Dann hörte sie es an der Tür klopfen. Es war Dienstag, 3:15 Uhr. Tag eins von sieben.