StudienAlltag
Ein Tropfen Blut. Langsam breitete er sich auf dem Stück Stoff darüber aus. Sie beobachtete fasziniert wie der karminrote Fleck immer größer wurde. Dann riss sie eine Stimme aus ihrer Trance:
„Das war's dann. Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen liegen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
Schon war die Schwester durch die weiße Tür des kleinen Raumes verschwunden und ließ Anna mit Ihren Gedanken zurück. Sie hasste Krankenhäuser. Das war schon immer so. Sie hasste einfach alles daran. Den Geruch des Desinfektionsmittels. Das kalte und farblose Licht der Neonlampen. Die Patienten, die wie zum Leben erwachte Leichen durch die Flure wandelten. Und die Ärzte, deren Passivität gegenüber den Menschen hier Anna stets daran erinnerte, warum sie niemals Medizin hätte studieren wollen. Und dennoch quälte sie sich alle vierzehn Tage hierher.
„So hier bitteschön.“, reichte ihr die Arzthelferin ein Sandwich und einen kleinen Tetrapack mit Orangensaft.
„Kommen Sie mit. Ich führe Sie noch nach draußen.“
Anna wurde behutsam am Arm Richtung Ausgang geleitet. Gemeinsam mit der blonden Schwester verließ sie das Zimmer. Sie blickte auf den Verband in ihrer Armbeuge. Der kleine rote Kreis hatte aufgehört größer zu werden. Sie seufzte leicht auf und strich sich mit ihrem kühlen Handrücken über die Stirn.
„Setzen Sie sich noch ein bisschen Fräulein. Ein wenig Ruhe können wir doch alle mal gebrauchen“, lächelte die Arzthelferin der jungen Frau entgegen bevor Sie hurtig in das Nebenzimmer verschwand.
Anna nahm auf einem roten Plastikstuhl platz. Noch spürte Sie die Erschöpfung nicht. Aber sie wusste, dass sich dies bald ändern konnte. Deshalb zögerte sie nicht lange und steckte den Strohhalm in die Safttüte und begann zu trinken.
Nur für einen kurzen Moment schloss sie dabei die Augen. Sie spürte wie das Blut durch Ihre Adern pulsierte. Wie es mit einer Geschwindigkeit von über einem Meter pro Sekunde durch ihren gesamten Kreislauf gepresst wurde. Jede Arterie und jede noch so kleine Kapillare wurde ausgefüllt. Vorsichtig fasste sie sich an das linke Handgelenk. Das regelmäßige Pulsieren beruhigte sie. Ganz langsam atmete sie aus. So langsam, dass man von außen kaum bemerkt hätte, wie sich ihr Brustkorb senkte.
Noch einige Minuten saß Anna so da bis ihr die Schwester die Hand auf die Schulter legte:
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Das Lächeln in den Augen der älteren Frau war aufrichtig.
„Ja.“
„Na prima.“
Einen Moment war Stille in dem menschenleeren Krankenhauszimmer.
„Dann nehmen Sie sich doch noch einfach ein paar Weintrauben mit.“, durchbrach die blonde Dame das Schweigen.
„Ich glaube Sie waren für heute sowieso die Letzte.“
Schon griff die Schwester auf den Beistelltisch und packte ein paar tiefrote Trauben in eine Plastiktüte.
„Hier!“, reichte sie sie der Patientin.
„Dankeschön.“, bedankte sich Anna.
„Dann bis zum nächsten mal. Sie wissen ja wie das mit der Bezahlung läuft“
„Ja das weiß ich“, erwiderte sie, als sie die Früchte vorsichtig in ihre Handtasche steckte und Richtung Ausgang steuerte.
„Auf Wiedersehen.“
Kurz machte sie noch am Desinfektionsmittel-Spender vor der Drehtür halt. Dafür fand sie immer Zeit. Abschließend zog sie den rechten Ärmel ihres Pullovers wieder hinunter. Der kleine rote Fleck war nun für niemanden mehr zu sehen. Bald darauf war auch sie verschwunden. Zumindest für die nächsten zwei Wochen.
Eigentlich war Anna ein schüchternes Mädchen gewesen. In der Schule hatte sie nie sehr viele Freunde gehabt. Ihren ersten festen Freund erst Jahre später als all ihre Bekannten. Doch das alles sollte sich ändern als sie nach bestandenem Abitur in die Großstadt zog. Dies war zunächst eine große Umstellung für sie wie auch ihre Eltern gewesen. Ihre ältere Schwester war zwar schon seit einigen Jahren mit der Ausbildung fertig und dem elterlichen Nest entflogen; doch dass sich das mittlere Kind nun doch für eine Universitäts-Laufbahn entschieden hatte und nun über 300 km von zuhause wegziehen wollte, überraschte Annas Eltern dann doch. Darauf konnte Sie jedoch keine Rücksicht nehmen. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und ich muss etwas aus mir machen. Das versteht ihr nicht – Heutzutage ist das einfach anders.“, hatte sie damals immer betont. Ob sie heute noch genauso dachte, das wusste sie selber nicht. Aber das hätte sowieso nichts mehr geändert. Fünf Jahre war diese Entscheidung bereits her und jemals wieder in das kleine Dorf zurückzukehren, dem sie seinerzeit entsprungen war, lag außerhalb ihres Interessenbereiches.
Fünf Jahre. Und was hatte diese Zeit aus ihr gemacht? War sie erfolgreicher als ihre damaligen Schulkameraden? War sie zufriedener? Das wusste sie nicht. Sie machte einfach weiter. Weiter bis sie irgendwo dort ankommen würde, wo sie wahrscheinlich niemals landen wollte. Aber das gehörte schon seit längerer Zeit zu ihrer Vorstellung vom Erwachsenwerden dazu. In dieser Hinsicht hatte sie sich dann doch sehr verändert.
So zum Beispiel auch in ihrem Privatleben: Wo sie vielleicht früher noch gedacht hätte, den Traummann fürs Leben finden zu können, war diese Idealvorstellung schon lange purem Rationalismus gewichen. Vielmehr fand sich Anna nun mit Gelegenheits-Bekanntschaften und One-Night-Stands ab, als weiter wertvolle Zeit ihrer Jugend damit zu verschwenden, nach der einen wahren Liebe zu suchen, die sich ihre Mutter wohl so sehr für sie gewünscht hätte.
Doch keinesfalls war dies etwas was ihr zu schaffen machte. Innerhalb der letzten Jahre hatte sie niemals das Gefühl gehabt, etwas verpasst zu haben. Im Gegenteil: während Ihrer Studienzeit – die sich nun langsam gegen ihren Willen dem Ende zuneigte – hatte Sie jede Gelegenheit genutzt, um sich auszuleben. Für eine Frau im einundzwanzigsten Jahrhundert – so dachte sie – gibt es keinen Grund weniger Spaß zu haben als die Männerwelt.
Und so gab es ein Detail über ihre Stadt der Wahl, dass sie ihren Eltern nur allzu gerne vorenthielt: Der Tinder-Markt hier war einfach ausgezeichnet.
Anfangs war sie von dieser amerikanischen Dating-App alles andere als angetan gewesen. Doch den gängigen Vorurteilen zum Trotz kam sie nicht umher die eine oder andere Stunde auf dieser Plattform zu verbringen – und ja sie musste es auch ihren Freunden gegenüber zugeben – gefallen an den unverbindlichen Kontakten zu finden. Vielleicht lag das an der Schwere, die manche ihrer sonstigen zwischenmenschlichen Beziehungen begleitete. Sei es nun der vorwurfsvolle Ton Ihrer Mutter, wenn Sie nach Monaten der Abwesenheit endlich mal wieder nach Hause kam. Oder der genervte Blick ihrer Studienkollegen, wenn sie es zum ersten mal dieses Semester schaffte in der Lerngruppe aufzutauchen. Nicht zuletzt die vielen unbeantworteten WhatsApp-Nachrichten eines abservierten Geliebten, dessen Kontaktversuche sie gekonnt zu ignorieren vermochte.
Tinder nahm ihr diese schleppende und erdrückende Verantwortung und ersetzte sie durch Oberflächlichkeit. Oberflächlichkeit in der sie sich geborgen fühlte. In der sie sich leicht wie eine Wolke fühlte. Unbeschwert und substanzlos. Ja so war es wohl. Dennoch: Sie genoss es.
Aber was wenn sie dann vielleicht doch jemanden fand? Diese Frage war durchaus legitim. Die Antwort darauf war umso einfacher: Sie wollte sich nicht verlieben. Sex reichte ihr für den Moment. Oder vielleicht auch nicht. So sicher war sie sich dann selbst doch nicht. „Scheißegal.“, hätte sie wohl erwidert. „Schert sich doch sowieso niemand um Gefühle von denen. Easy come easy go.“
Und mit dieser Einstellung machte sie sich vor dem Spiegel zurecht. Sie würde in einer halben Stunde jemanden treffen. Gut genug sah er aus. Und besser noch: Er verstand es mit den ersten drei Textnachrichten ihr Interesse zu wecken. Und das war bei der stets wachsenden Menge an Matches ein nützliches Auswahlkriterium.
Gespannt, ob seine Fotos der Realität entsprachen, schloss sie die Wohnungstür hinter sich.
„Hey.“
„Hi.“
„Wartest du schon ...“
„Nein nein …“, unterbrach er.
„Gott sei Dank. Ich bin fast immer zu spät“
„Geht mir auch so.“
„Na dann.“
„Auf was hast du heute Bock?“, preschte Anna vor.
„Naja. Zunächst mal auf ein Bier würd' ich sagen.“, grinste er.
„Das klingt doch schon mal gut. Darfst mich auch gerne einladen.“
„Dann hoff' ich mal, dass sich das rentiert“, witzelte er und wandte sich dem Mann hinter dem Tresen zu. Einige Minuten später saßen sie beide an dem kleinen Tisch in der Ecke. Anna liebte diesen Platz. Sie hatte dort den gesamten Raum im Blick. Samt der hoch frequentierten Eingangstür. Sie mochte es, sehen zu können, was um sie herum geschah. So hatte sie die Oberhand. Zumindest empfand sie es so.
„Wie lange bist du schon hier?“
„Oh Mann... Das werden jetzt bald sieben Jahre“
„Und du studierst noch?“
„Ja. Zumindest bis zum nächsten Wintersemester. Dann wird langsam mal meine Master-Arbeit fällig.“
Anna nahm einen Schluck von Ihrem Bier.
„Naja sieht bei mir ähnlich aus. Aber irgendwie fehlt mir langsam die Motivation...“
„Kenn ich.“
„Fick' die Uni, oder?“
„Irgendwie schon ja … Fick die Uni!“
So wie die unteren Kanten ihrer 0.33L-Flaschen aufeinandertrafen, trafen sich auch ihre Blicke. Das Mädchen strich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mit verstohlenem Lächeln zur Seite.
Eigentlich war so ein Abend wie heute bei Anna schnell entschieden. Sie wusste innerhalb der ersten Minute in welche Richtung sich die restliche Zeit entwickeln würde. Weil sie genau wusste wie sie wollte. Und die Männer, die sie bisher getroffen hatte, hatten damit auch nie ein zu großes Problem gehabt.
Normalerweise ging sie immer mit zu ihm. Das lag einerseits daran, dass sie einfach keine Lust darauf hatte, sich mit anhänglichen Exemplaren am nächsten Morgen abgeben zu müssen. Andererseits – und das hätte sie wiederum wohl nicht so leichtfertig zugegeben – schämte sie sich ein bisschen für ihr kleines fünfzehn Quadratmeter Zimmer, das sie ohnehin kaum bezahlen konnte. Ihr reichte es. Trotzdem fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, den Typen der ihr gerade gegenüber saß heute Nacht dorthin zu bringen. Aber sie hatte das Gefühl, dass es ihm auch nicht unbedingt darauf ankam, ihre Wohnung zu sehen.
Sie begann: „Du hast also ein Mischpult?“
Ob sie sich geschämt hatte, als sie sich um halb neun morgens aus dem Apartment des angehenden Juristen schlich, war schwer zu sagen. Vielleicht früher einmal. Aber zehn Semester waren eben eine lange Zeit. Vor allem wenn man in einer derart schnelllebigen Stadt wie der ihren lebte, die von Semester zu Semester mit frischen Studenten geflutet wurde. Traumjäger der zukünftigen Stunde. Traumtänzer – hätte man Anna gefragt. Wie wenig sie mit diesen naiven und doch beneidenswert euphorischen Schulabsolventen verband, war deprimierend. Sie war doch auch einmal so gewesen. Und jetzt verpasste sie zum vierten mal dieses Semester das Mittwochs-Seminar. Und warum? Nur weil sie wieder mit irgend einem solchen Angeber pennen musste. Jetzt war sie fast ein bisschen sauer auf sich. Energisch strich sie sich ihren Rock glatt. Die Linie U1 fuhr ein.
„Naja.“, dachte sie sich. „Aber ich hatte einfach Bock drauf. Und auf Uni eben nicht – ist doch einfach.“ Sie wusste, dass sie ehr schwierig zu überzeugen war. Vor allem von sich selbst. Aber gelingen wollte es ihr stets. Aus ihr wäre bestimmt gar keine so schlechte Poker-Spielerin geworden, dachte sie. Nun musste sie wieder ein bisschen lächeln, als sie in das öffentliche Verkehrsmittel einstieg.
Was aus den Typen, die sie oft ahnungslos in ihren zerwühlten Bettdecken zurückließ wurde, interessierte sie nicht. Immerhin vermutete sie, dass doch jeder Bescheid wisse, worum es bei solchen Bekanntschaften geht. Eine professionelle Distanz zu wahren, hatten bestimmt auch ihre Liebhaber gelernt. Perfekter Bluff eben.
Manchmal war es für Anna bei der Springflut an Tinder-Matches schwer, den Überblick zu behalten. Etwas einfacher wurde es dann, wollte sie diejenigen aufzählen auf die sie sich unter vier Augen eingelassen hatte. Zwar hatte sie noch nicht angefangen zu zählen. Doch brauchte es es auch hier keinen der verzweifelten Mathematik-Erstsemester um festzustellen, dass es mit dem Juppie von gestern nun bereits ein spannender Monat für sie gewesen war.
„Universität West!“, ertönte die elektronische Stimme der Sprechanlage.
„Heute nicht.“, dachte sich Anna als sie die Studenten dabei beobachte, wie sie pflichtbewusst den Bus verließen um sich den Aufgaben des heutigen Tages zu stellen.
„Ich brauch jetzt erst mal mein Bett und eine schöne Meeres-Doku auf Netflix“, dachte sie, als sie sich die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren stecken wollte. Doch anstatt ihr Lieblings Robert Schulz Set abzuspielen, erblickte sie erschrocken eine neue Mitteilung auf Ihrem Display.
Zitternd öffnete sie die Nachricht. Ihre Augen huschten aufgeregt über den Text. Als Anna dem Inhalt gewahr wurde, sackte sie auf dem abgenutzten Sitz des Vehikels zusammen. Sie fühlte sich als ob sie das ganze auf diesem Planeten vorkommende Temperatur-Spektrum von heiß nach kalt durchlaufen würde. Und das dutzende Male hin und zurück in nur wenigen Sekunden. Ihr wurde schlecht. So unbeschreiblich schlecht.
Sie schloss die Augen.
Auch jetzt wieder fühlte sie das Pulsieren. Wie Montag im Krankenhaus. Das Pulsieren in ihren Armen, ihren Beinen. Das zyklische Fließen des Blutes in Ihren Adern. Ein Blutstrom der jede nur noch so mikroskopisch kleine Kapillare Ihres Körpers auszufüllen vermochte.
Mit dem Öffnen und Schließen Ihrer Herzklappen schafften es tausende Milliliter der tiefroten Flüssigkeit die gesamte Länge ihres Körpers zu durchqueren. Tausende kleine Tropfen. Kleine rote Kreise auf so unschuldig rotem Stoff.
Das Display des Handy sprang, als es auf den Boden des Busses auftraf. In ihren Ohren konnte sie nur noch das Pochen ihres Blutes spüren. Ihres HIV-positiven Blutes.