Kurz­geschich­ten

Das Date

Sie presste ihre Nase dicht an das Schaufensters. Draußen war es kalt. Ein frostiger Dezember-Abend. Sie atmete aus und die nebelartige Luft beschlug rasch an der Glasscheibe. Sie wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke über die eisige Oberfläche, um wieder hindurchsehen zu können. Das Innere des Gebäudes leuchtete in warmen Farbtönen. Da waren alte Möbel und Kronleuchter. Seite an Seite mit Werken lokaler Künstler. Im Hintergrund war eine kleine Bar zu sehen. Bereits jetzt drängelten sich einige Leute in den engen Innenraum. Von ihrem Standpunkt aus konnte Lena einwandfrei auf die Bühne sehen. Diese war direkt an der Schaufensterseite des Gebäudes aufgebaut. Hinter den hoch aufragenden Verstärker-Türmen sah sie diverses Musik-Equipment. Völlig aus den Augen gelassen stand dort eine abgegriffene three-step-sunburst Fender Jaguar gegen den Bassverstärker gelehnt. Ihr Blick wanderte weiter. Bei dem glänzenden Lack des alten Rickenbacker ging Lena das Herz auf. In der Mitte der Bühne befand sich ein burgunderfarbenes Schlagzeug. Einsam stand ein mit Weißwein gefülltes Weinglas auf dem Mischpult. Das Mädchen war aufgeregt.

„Hey.“
„Hi.“
„Wartest du schon lang hier?“
„Nein. Eben erst gekommen.“, log Lena.
„Ach gut. Ich hatte schon Angst, du wärst pünktlich gewesen. Hat etwas länger gedauert bei mir.“
„Passt schon.“ Sie strich sich die orange-roten Haare aus dem Gesicht und sah den jungen Mann mit strahlenden Augen an.
„Willst du reingehen? Sau kalt hier draußen.“
Das Mädchen nickte.
„Na dann los.“

Jonas lächelte und öffnete dem Mädchen die Tür.

Musikkneipe Aussenansicht
Photo by Matthew Henry on Unsplash

Als Lena den Raum betrat, wurde sie fast von der Wärme überrumpelt. Sie rieb sich die Hände. Langsam konnte sie ihre Finger wieder spüren. Sie standen nun im kleinen Eingangsbereich der Halle, direkt vor dem Merchandise-Stand der Band. Hurtig kramte sie ihr Handy aus ihrer Umhängetasche und warf einen Blick darauf. „08:23 Uhr. Dauert wohl noch ein bisschen.“, dachte sie. Sie zog ihre Handschuhe und ihren Schal aus, dann wandte sie sich an ihren Begleiter:

„Wir haben noch ein bisschen Zeit. Willst du noch was trinken vorher?“

„Ha. Wollte dich gerade das Selbe fragen. Wart' kurz, ich such uns nur eben einen Platz.“

Er drehte sich um und begann sich durch die Menschenmenge zu drängen. Lena spürte, wie er dabei nach ihrer Hand griff, um sie nicht zu verlieren. Als seine Finger ihre Haut berührten, durchfuhr sie ein wohliger Schauer. Ob er das merkte? Eine Minute lang kämpften sie sich durch die Masse von alternativen Musik- und Kulturliebhabern. Dann – viel zu früh für ihren Geschmack – waren sie an der anderen Seite des Raumes angekommen. Rechts von ihnen standen einige alte Fässer, die als Sitzgelegenheiten dienten. Links von ihnen standen bereits mehrere Menschen vor der Bar.

„Setz dich schon mal hin. Ich hol uns was.“, zwinkerte er ihr zu.

„Klar.“

Lena zog ihre Jacke aus. Hinter ihr an der Wand häuften sich bereits einige Kleidungsstücke. Sie zögerte nicht und legte ihre dazu. Später würde sie ihr Eigentum schon wiederfinden. Das hatte bis jetzt immer geklappt. Sie setzte sich auf eines der alten, bunt lackierten Fässer und sammelte sich. Verstohlen blickte sie zu Jonas rüber. An der Theke nahm er bereits zwei Bierflaschen entgegen und begann, in seiner Hosentasche nach etwas Geld zu suchen. Dankend nahm der Barmann den Fünf-Euro-Schein entgegen.

Sie hatten sich vor einer Woche auf einem ähnlichen Konzert kennengelernt. Beziehungsweise danach. Auf der Aftershow-Party. Die kleine Kneipe, in der die Musiker damals auftraten, war an diesem Tage randvoll mit Leuten gewesen. Es musste ungefähr halb zwei Uhr morgens gewesen sein, als Lena plötzlich alleine dastand – ohne ihre Postpunk-Freunde. „Welche der vier Bands hat dir heute am besten gefallen?“ – so hatte es begonnen. Das war jetzt erst eine Woche her, doch ihr Leben fühlte sich seitdem anders an. Irgendwie wärmer. Das Erste, das sie nun nach dem Duschen tat, war einen Blick auf ihr Smartphone zu werfen. Eine Nachricht von ihm war für sie stets ein Highlight.

Sie ertappte sich dabei, wie sie sich auf die Lippen biss.

„Hier bitte.“

„Dankeschön.“ Sie kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Euro-Münzen.

„Ach.“, blockte Jonas ab. „Passt schon“. Mit einem Lächeln reichte er ihr die Flasche.

Lena sah auf ihr Getränk, dann blickte sie hoch zu ihm.

„Danke.“, freute sie sich.

Musikkneipe Innenansicht
Photo by Clem Onojeghuo on Unsplash

Das war nicht das erste mal, dass sie sich seit letzter Woche gesehen hatten. Nein – sie hatten sich einmal an der Universität auf einen Kaffee getroffen. Damals war sie wohl noch aufgeregter gewesen, als das heute der Fall war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mindestens eine halbe Stunde zu früh vor dem Café bei der Zentralbibliothek gewartet hatte. Sie wurde rot. Für sie war es komisch gewesen, plötzlich nüchtern vor dem Jungen zu stehen. Jetzt fühlte sie sich ähnlich.

Jonas setzte sich links neben sie.

„Sag mal.“, begann er. „Was hast du heute so getrieben?“

„Uni-Kram. Nichts Spannendes.“

„Naja. Wenigstens warst du fleißig. Täte mir wohl auch mal gut.“, er fuhr sich durch die halblangen dunkelbraunen Haare.

„Ach. Mach dir keinen Stress. Ist doch schon mal ein gutes Zeichen, wenn du ein schlechtes Gewissen hast.“, witzelte sie und nahm einen Schluck aus ihrer Bierflasche. Ihre Blicke trafen sich, dann sahen beide zur Bühne hin.

„Woher kennst du Simon eigentlich?“

„Ach der. Das ist der Freund meiner Mitbewohnerin. Sie hatte geradezu insistiert, dass wir heute hier herkommen.“

„Ich bin auf jeden Fall froh, dass du mich mitgenommen hast.“, erklärte sie

„Hey. Wenigstens hattest du Bock. Ich wäre ja froh, wenn nur halb so viele Leute so ticken würden wie du.“ er grinste. „Naja – weil du wenigstens ein bisschen Ahnung von Musik hast, mein ich.“, versuchte er die Schleimspur wieder aufzuwischen.

„Oder weil du mich vögeln möchtest.“

Jonas schluckte. Dann sah er das hübsche Mädchen neben sich an. Lena begann zu lachen. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. „Haha. Bleib ruhig. Soweit sind wir noch lange nicht.“ Sie sah zu ihm herüber. Der Junge lief leicht rot an, fing sich jedoch schnell und blickte wieder geradeaus.

„Na dann.“

Das Pärchen rückte ein wenig näher zusammen. Dann saßen die Beiden eine Minute schweigend nebeneinander. Jeder an sein Bier geklammert.

„Was machen die eigentlich?“
„Blues.“
„Blues?“
„Blues. Und Funk glaub' ich.“
„Funk hört sich gut an, oder?“
„Ja.“

Die beiden stießen an. Jonas strich dem Mädchen die Harre aus dem Gesicht. Unbeschreiblich kurz verweilte seine Hand auf ihrer Wange. Die Wärme auf Lenas Haut strahlte in ihren ganzen Körper. Dann zwinkerte er ihr zu, ließ von ihr ab und konzentrierte sich wieder auf die Bühne. Dort begannen die Künstler bereits damit, ihre Instrumente zu stimmen. Sie atmete tief ein, dann folgte auch sie dem Spektakel.

E-Gitarre und Verstaerker
Photo by William Iven on Unsplash

Die Menge applaudierte. Doch irgendwann musste mal Schluss sein. Auch wenn dies erst nach der zweiten Zugabe war.

„Echt klasse oder?“

„Ja. Besser als ich's mir gedacht hatte, um ehrlich zu sein.“

„Hab schon gemerkt, wie du getanzt hast.“

Sie lächelte.

„Hey.“

„Was?“, strahlte sie.

„Ich würd' mir jetzt noch schnell die Setliste schnappen und danach ...“

„Ja?“

„Hast du noch Bock auf was zu trinken? Ich kenn' ne gute ...“

„Klar!“, unterbrach sie ihn

„Cool.“ Wieder fuhr er sich durch die Haare und warf sie elegant nach hinten. Sie mochte, wenn er das tat. Das zeigte, dass auch er nervös war. Vielleicht nicht ganz so sehr wie sie, doch immerhin. Das war ein gutes Zeichen. Dann konnte sie ihm nicht völlig egal sein.

„Ich geh nur noch eben die Toilette suchen.“, sagte sie.

„Ja die ist da hinten links die Treppe runter. Soll ich dich begleiten?“

„Ne ne. Geht schon. Kümmer du dich lieber um deine Setlist. Der Typ mit den Dreads da hinten hat nämlich auch schon ein Auge darauf geworfen, glaub ich.“

„What the ...“, keucht er. „Ja danke – dann bis gleich.“

„Ja. Bis gleich.“, winkte sie ihm noch zu, als er sich hektisch in die erste Reihe vor der Bühne drängelte.

leere Bierflaschen
Photo by Moss on Unsplash

Lena kämpfte sich durch die langsam auseinander strebenden Konzertbesucher. Bald hatte sie einen Wegweiser gefunden, der zu den Toiletten deutete. Sie war noch nie hier gewesen. Vorsichtig stieg sie die Treppe herab. Der Lärm von dem Treiben über ihr war jetzt nur noch sehr gedämpft wahrnehmbar. Sie kam an der untersten Stufe an und fand vor sich eine Tür mit der Aufschrift „Mädels“. Darunter war ein Schwarzweißfoto eines weiblichen Geschlechtsteils angebracht. „Wie geschmackvoll.“, dachte sie sich und trat an den Eingang heran. Die Klinke ließ sich jedoch nicht herunterdrücken. Aus der mit schwarzweißem Phallus verzierten Tür des Männerklos nebenan kam ein weiterer Besucher geschritten.

„Die ist zu! Hat jemand vollgekotzt. Vertrau mir: Da würdest du nicht reinwollen. Da hinten im Gang is' noch eine, glaub' ich.“, riet er ihr. Dann schwankte der Angetrunkene die Treppe hinauf.

Lena blickte sich um und fand tatsächlich einen Pfeil, der in die Richtung wies, in die der Mann gedeutet hatte. Sie folgte dem düsteren Gang. Die teilweise flackernden Neonröhren tauchten den Gebäudeteil an manchen Stellen in ein unangenehm steriles Licht. Sie musste einige Meter gehen, doch um die Ecke fand sie eine Toilette. „Ach hier.“, dachte sie und öffnete die Tür – diesmal ohne Probleme.

Nachdem sie ihr Geschäft verrichtet hatte, betrachtete sie sich noch im Spiegel. Die vergilbten Fliesen an den Wänden waren voller Sticker. Teilweise dem lokalen Fußball-Verein verschrieben, teilweise voller linker Parolen. Und dann waren da noch dutzende Bandlogos zu sehen. 'Man fühlt erst dann die Ketten, wenn man sich bewegt'. Lena schmunzelte. Auch sie hatte eine solche Phase bereits hinter sich. Sie sah in den zersprungenen Spiegel. Dann dachte sie an Jonas und wie unglaublich müde sie aussah. Flink griff sie in ihre Tasche und begann ein kleines Döschen mit Makeup herauszuholen. Konzentriert konnte man sie dabei beobachten, wie sie ihren Lidstrich nachzog. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass alles passte, schnaufte sie noch einmal tief durch. Sie räumte die Schatulle wieder zu den andern Sachen in ihrer Tasche. Dort lag sie nun neben einem Notfall-Tampon, ihrem Notizbuch und einer halb leeren Pillen-Verpackung. Jetzt war sie bereit für den Rest des Abends. Voller Vorfreude öffnete sie die Tür des kleinen Ersatzbadezimmers. Gelassen blickte sie in den zwielichtigen Gang vor sich.

„Halb so schnell, Kleine.“, packte sie eine Hand fest am Arm. Lena drehte sich rasch um.

„Was zur Hölle!? Lassen Sie mich los!“ Lena versuchte sich loszureißen. Doch ihr zierliches Handgelenk war in dem eiskalten Griff des Angreifers wie in einem Schraubstock gefangen.

„Du machst jetzt keinen Muchs mehr.“ Die Gestalt schwenkte ein Teppichmesser dicht vor ihrem Gesicht.

„Oder willst du jedes mal, wenn du in den Spiegel schaust, daran erinnert werden, was heute passiert ist?“ Er presste die Klinge gegen ihre Wange. Der Druck des scharfkantigen Gegenstands wurde immer stärker. Dort wo das Metall auf ihre weiche Haut traf, setzte ein glühendes Pochen ein.

„Was ... !?“, begann sie. Doch der Mann hielt ihr nun fest den Mund zu.

„Du hältst jetzt die Klappe. Dann ist Alles bald vorbei.“

Er umklammerte das Mädchen nun mit seinem ganzen Körper. Lena konnte seine Hüfte dicht an ihrem Oberschenkel spüren. Die Person legte den Arm um ihren Hals, um sie zu fixieren. Lena versuchte zu schreien doch ihre Stimme wurde von der fleischigen Hand auf ihren Lippen abgedämpft. Jeder Hilferuf von ihr verlor sich wie versiegendes Wasser am Strand.

„Ich hab dich da oben tanzen seh'n. Oh ... ihr jungen Dinger. Und ihr glaubt tatsächlich, dass euch das jemand abkauft.“ Er öffnete langsam seinen braunen Flechtgürtel, während er sprach. Dann legte er eine Hand in ihren Schritt. Fest griff er in den schwarzen Jeans-Stoff ihrer Hose.

Lena trat wild um sich doch der hühnenhafte Mann verstand es, jede ihrer Bewegungen im Keim zu ersticken. Sie wurde in einen finsteren Seitengang des Kellerareals gezogen. Seine Hand machte sich nun an dem oberen Knopf ihrer Hose zu schaffen. Ihre Fäuste ballten sich, bis ihr Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte sich dieser allumfassenden Ohnmacht nicht einfach so ergeben. Nein. Nicht so.

Er setzte seine Lippen dicht neben ihr Ohr. Sein stoppeliges Kinn kratzte dabei die zarte Haut an ihrem Hals. „Schön leise, Kleine. Wenn du brav bist, benutzt' ich vielleicht sogar 'nen Gummi.“

Der Geruch von Schweiß und Zigaretten biss in ihrer Nase, als sich ein eiskalter Finger den Weg in ihren Slip suchte. Erneut versuchte sie zu schreien. Nur ein dumpfes Stöhnen erklang. Eine Träne hing in ihrem Augenwinkel. Sie biss sich auf die Zunge. Dann kniff sie die Augen fest zusammen. Sie konnte das nicht zulassen.

Eine Faust traf den Kerl am Kinn. Er ging zu Boden.

„Fick dich!“, schrie Jonas. „Was zur Hölle fällt dir ein!?“

Der Angreifer raffte sich auf und lies das Messer fallen.

„Hey hey. Alles cool. Deine Freundin und ich wollten nur ein bisschen reden. Wir kennen uns doch noch von früher.“

Jonas sah zu Lena, die sich – völlig bleich – an die Wand des Ganges presste.

„Alter. Fick dich. Lass sie in Ruhe.“ Er packte den Typen an seinem dicken karierten Hemd. „Ich ruf jetzt die Polizei. Kannst das denen erklären.“

Lena begriff kaum was um sie herum geschah. Sie wusste nur eins – dass sie Jonas nicht mehr loslassen wollte.

„Bleib mal locker. Da gibt es doch echt keinen Grund dafür. Was soll … "

„Halts Maul Arschloch!“ Jonas packte den Typen nun noch fester am Kragen. „Kein Wort mehr. Du bleibst erst mal hier.“

Der Angreifer hob erneut die Hände.

„Okay. Okay. Du bist hier der Boss, Kleiner.“

Nun schritt Jonas endlich zu Lena und nahm sie fest in den Arm.

„Alles ok?“

Lena nickte. Sofort fiel sie dem Jungen um den Hals. Einen kurzen Moment sahen sich die beiden in die Augen. Das Mädchen lächelte.

Er wurde von ihr gerissen.

Der ungepflegte Mann drehte Jonas herum. Er holte aus und schleuderte ihm eine seiner Fäuste gegen die Schläfe. Jonas fiel. Sein Nacken prallte gegen die Kante eines der Fässer, die hinter ihm standen. Lena hörte es knacken. Stille. Dann lag er bewusstlos am Boden.

„Jonas?“, hauchte sie.

dunkeler Kellergang
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