Kurz­geschich­ten

Back­stage

In dem kleinen Raum hinter der Bühne war es stickig. Schon oft saß er in solchen Räumen, doch heute war es anders. Die Finger an Jons rechter Hand waren voller Blasen. Wund gespielt von den vielen Bandproben in den letzten Wochen. Alles für diesen Tag. Diese glanzvollen Minuten, die sie heute im Rampenlicht stehen würden.

Jon blickte verstohlen zu Mary hinüber. Sie wippte nervös auf und ab. Dieses Verhalten kannte er sonst nicht von ihr. Die toughe Fronterin des Dreiergespanns, welches heute ein wenig Ruhm suchte, war sichtlich beunruhigt.

„Wo bleibt er nur?“, murmelte sie mürrisch, als sie sich ihre Zigarette anzündete. Es war schon die fünfte, dabei waren Sie kaum eine Viertelstunde hier. Sie blies den blauen Dunst mit einem verächtlichen Geräusch aus. Die Luft in dem kleinen Backsteinraum wurde von Minute zu Minute unangenehmer.

„Er hat's bis jetzt immer geschafft.“, versuchte Jon Mary zu beruhigen. Oder sich selbst. Er wusste es nicht genau. Normalerweise kam so etwas nicht vor. Hank war tatsächlich immer pünktlich gewesen. Und das war etwas, was man nur von wenigen Schlagzeugern sagen konnte mit denen Jon bis jetzt gespielt hatte. Tatsächlich war Hank der Ruhepol der gesamten Band. Über die letzten Wochen hinweg fand er immer wieder die Ruhe und Kraft das kleine Kollektiv für den heutigen Tag zu einen. Und dann fehlt von ihm jede Spur.

Ziegelfassade
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Die Tür öffnete sich. „Zehn Minuten!“ „Ja ja.“, zischte Mary, als sie dem Konzertangestellten die Türe wieder vor der Nase zuschlug. Die 24-jährige begann hektisch im Raum auf- und abzugehen.

Die Wände des kleinen Backstage-Zimmers waren voller Sticker und alten Bandplakaten vergangener Auftritte, teilweise bekannter, zum Großteil jedoch irgendwelcher Underground-Bands. Die junge Frau ging zu einem rosa-farbenen Sticker und musterte ihn eingehend. Sie riss ihn ab, zerknüllte ihn und warf ihn Jon zu. „Was zur Hölle ist hier nur los!? Was ist das überhaupt für ein Laden?“. Jon entfaltete das Stück Papier und warf einen Blick darauf. 'Black Metal against racism'. Noch nie hatte er verstanden, warum Mary so viel Wert auf die veralteten Werte der Szene legte. Musik war Musik für ihn. Doch vielleicht war genau das das Spannungsfeld aus dem er und sie ihre Kreativität zogen.

„Reg dich nicht so auf.“, stöhnte Jon als er langsam aufstand. „Es ist nicht mehr wie in den 90ern. Wir leben in der Post-Ära.“. Er ging hinüber zu seinem Fender SQ und begann das Instrument zu stimmen. „Heute zündet keiner mehr Kirchen an.“ Ein entspannter Basslauf tropfte von Jons Fingern.

„Ach, das ist es ja gar nicht. Ich hab einfach keinen Bock darauf, in zehn Minuten ohne Schlagzeuger nach da draußen zu gehen.“ Mary trat ihre Kippe aus und blickte in den Spiegel.

Der Raum hatte keine Fenster. Nur eine kleine Reihe flackernde Neonröhren erhellte den miefenden Rückzugsort. Draußen vor der Bühne hörte man schon die Menge unruhig werden. Bald waren sie dran - und immer noch keine Spur von Hank.

Person spielt E-Bass
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Die Sängerin fuhr sich angespannt durch die Haare. Jon konnte nie genau sagen, wie lang sie eine Haarfarbe behielt. Aber das momentane Platinblond würde wohl nicht mehr länger als zwei Wochen Marys Kopf zieren. Sie war wechselhaft. Wild. Sie war zwar kein Ass an der Gitarre – aber dafür hatte sie Temperament. Charakter und Ausstrahlung. Das war wichtiger als alle Riffs sauber runter spielen zu können. Zumindest für ihn.

Ob sie es wusste? Jon versank in Gedanken als er die g-Saite auf die richtige Frequenz brachte.

22:10 Uhr. In fünf Minuten mussten sich die beiden wohl oder übel eingestehen, dass sie den Gig heute absagen mussten. Wie konnte das nur passieren? Normalerweise war Hank stets per Handy erreichbar gewesen, doch heute schien er keine Notiz davon zu nehmen. Dass er kein Geld auf dem Mobiltelefon hatte um zurückzurufen war keine Seltenheit. Doch gar nicht erst ran zu gehen, dass passte nicht zu ihm.

Mary pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht und wandte ihr Gesicht vom kleinen, gesprungenen Spiegel ab. „Ich geh da jetzt raus und sag den ganzen Scheiß ab! Hat doch keinen Sinn.“ „Warte doch noch. Welche Band fängt schon pünktlich an?“, steuerte der Bassist gegen. „Er wird schon noch auftauchen. Hat bestimmt nur 'ne Panne. Wirst schon sehen. Klar?“. Mary nickte und biss sich auf die Lippen. Ihre schwarz lackierten Nägel krallten sich in die von Netzstrümpfen bedeckten Knie, als sie sich wieder hinsetzte.

Natürlich musste Jon lügen. Mary wäre sonst womöglich total ausgetickt. Und irgendwie würde sich das alles schon auflösen. Er fragte sich selber warum er überhaupt so ruhig bleiben konnte, während wohl heute ihre Karriere schon beendet war bevor sie überhaupt begonnen hatte. Aber das war wohl die einzige Lösung. Jon stellte sein Instrument wieder in die Ecke und setzte sich neben seine Mitbewohnerin.

„Wenn das alles vorbei ist, dann gehen wir erstmal 'n kühles Bier trinken – weißt schon: 'n bisschen feiern. Wie hört sich das an?“, munterte er sie auf. „Ach verpiss' dich!“, schlug sie ihn fort. „Dazu muss es erstmal was zu feiern geben! Idiot.“ Sie ließ den Kopf hängen und Jon wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Vielleicht einfach garnichts. Das war wohl ohnehin besser so. Er wurde nervös.

Da klopfte es. Gleichzeitig sahen die beiden Musiker hinüber zur Tür. In einem Vakuum von Angst bis freudiger Erwartung weiteten sich ihre Augen. Doch anstatt des Konzertangestellten oder des lange ersehnten Schlagzeugers stand eine andere Person im Türrahmen.

Personenmenge vor Buehne
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Der Polizist verlas Jon seine Rechte als er ihm mit einer schnellen Geste die Handschellen anlegte. Er selbst konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, warum er heute überhaupt noch gekommen war. Vermutlich um Mary den Trost zu spenden, den sie verdient hatte. Er wollte bei ihr sein, auch wenn es vielleicht falsch war.

Schon in den letzten paar Wochen hatte er die zunehmende Zuneigung zwischen den beiden wahrgenommen. Die Blicke während den Proben und die vertrauten Worte in der Bar danach. Hank war der Schlüssel zu ihrem Erfolg gewesen und gleichzeitig ihr Verderben. Jon konnte nicht genau erklären, wann er sich dazu entschlossen hatte. Vielleicht lag es an dem Stoff. Er wusste es nicht genau. Doch so konnte er es nicht mehr aushalten. Sie musste doch wissen wie es ihm ging? Sie wusste es doch oder? Sie hat es wissen müssen! Immerhin lebten sie schon solange zusammen. Waren schon öfters gemeinsam aus der Scheiße raus gekommen. Warum war diesmal alles so anders? Alles so schwierig für ihn allein?

Als er sich noch einmal umblickte während er in den Polizeiwagen einstieg, warf er einen letzten Blick auf die Frau, die er zu lieben geglaubt hatte. Den vorwurfsvollen Ausdruck in ihren Augen würde er nie wieder vergessen. Der Hass, der zwischen verlaufenem Kajal und Lidschatten auf ihn niederprasselte, zwang ihn förmlich in die Knie. Sein Leben hatte bisher nie den Lauf genommen, den er sich ausgemalt hatte. Doch die Frau, die ihn da draußen mit einem so ungläubigen Blick durchbohrte, war einmal das einzige gewesen, für das er leben wollte. Hier würde er nicht mehr raus kommen. Nicht mit ihr. Nicht alleine. Aber ein Teil von ihm wollte das auch gar nicht mehr.

Sie schloss die Augen und drehte sich weg. Dann wurde die Welt dunkel für Jon.